Ähnlichkeiten mit Personen wären rein zufällig. Namen von Einrichtungen und Institutionen wurden im notwendigen Rahmen der Handlung zufällig ausgewählt.
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IM MAHLSTROM

Geschichte einer deutschen Krankheit


Jeder Mensch hat einen Schutzengel. Vom Beginn seines Lebens an.
Meiner heißt Jonathan, von jeher, seit ich diesen Namen aussprechen kann. Meist wacht Jonathan im Hintergrund über mich. Stumm und unsichtbar. Droht Gefahr, tritt er an mich heran und spricht zu mir. Dann vergesse ich meinen Eigensinn und folge seiner Stimme, gegen alle Widerstände hindurch, innere wie äußere, in der Regel nach zähen Verhandlungen.
Jonathan ist sanftmütig, gütig, nachsichtig und geduldig. Er hat ein zweites Gesicht. Er trägt dafür Sorge, dass ich das verwirkliche, was mir vom Leben als Aufgabe zugedacht ist. Weiche ich vom Weg ab, ist er von unerbittlicher Strenge. Er gibt mir die Rute, wie der Zen-Meister dem verstockten Schüler.
Mit Beginn meiner Pubertät beschäftigte ich Jonathan vermehrt. Besonders nachdrücklich, als ich vierzehn war. Ich war verzweifelt. Überall nur heillose Schwierigkeiten: mit der Familie, in der Schule und mit den Freunden, und nicht zuletzt mit meiner Sexualität. Alles in allem eine schwere Pubertätskrise, und Rettung war nirgendwo in Sicht.
Nach der Konfirmation nahm der Sog des Mahlstroms bedenklich zu. Ich begnügte mich nicht mehr damit, ins Nichts zu starren, ich wünschte mir, mit dem Nichts eins zu werden. Was nicht heißt, dass ich Selbstmordabsichten hatte, denn im Innersten bin ich lebenshungrig. Ich hatte es nur satt, bei jeder Annäherung an das steile unwirtliche Ufer immerzu zu scheitern, mir an den Steinen die Knie aufzuschlagen und an den Ufergehölzen das Gesicht zu verschrammen. Ich wollte keine Schmerzen, keine Leiden, kein ewiges Kollidieren mehr. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben. Und die gab es zuverlässig nur dort, wo die äußere Wirklichkeit nicht hinreichte - in der Vereinigung mit dem Nichts.
Einige Monate nach der Konfirmation wurde der Sog des Nichts übermächtig. Ich ließ mich treiben. Mein Boot strudelte vom Ufer weg, dem Mahlstrom zu. Jonathan übernahm schließlich das Steuer. Er sprach mit mir.
»Werde Ringer beim RC'85!«, flüsterte er mir zu.
Eine verrückte Idee. Ein Erzfaulenzer wie ich und Freistilringer! Zudem nahm der exklusive Sportklub nur Mitglieder der Oberklasse auf. Ich jedoch war ein Underdog, ein Schmuddelkind aus Essen-Altendorf, einem Prolo-Viertel. Und schließlich fehlten mir die körperlichen Voraussetzungen. Ich war klein, schmächtig und unsportlich.
All dies hielt ich Jonathan entgegen.
»Du schaffst das!«, beharrte er.
Und mein Vater meinte: »Du kannst ja nicht mal über die Bordwand gucken.« Er sah mich als Leichtathlet, wie er einer gewesen war.
Ein Grund mehr, kurzfristig zu sehnigen, muskelschweren Einmeterfünfundachtzig aufzuschießen. Zwei Jahre später war der lethargische Hänfling zum erfolgreichen Freistilringer mutiert. Zur großen RC'85-Hoffnung.
Die Sportlerkarriere hätte die Sandbank für einen bequemen Ausstieg aus dem Sog des Mahlstroms werden können. Ihr abruptes Ende fand sie, als ich mich einen Tag vor meinem neunzehnten Geburtstag mit einem Auto messen wollte. Ich zog den Kürzeren. Ich fuhr ein Mofa.

Ich erwachte im Krankenhaus. Keine Erinnerung, dafür aber Schmerzen im Gesicht. Meine Augen und Lippen verschwollen, die Zähne gesplittert. Schürfwunden an Armen, Beinen und an der rechten Schulter.
»Ein Unfall«, sagte der Arzt, »Zusammenstoß mit einem Auto. Sie haben eine Gehirnerschütterung. Bleiben Sie bitte ruhig liegen und bewegen Sie sich nicht!«
Das war am späten Vormittag des 10. November 1963.
Ein paar Tage später wurde ich verlegt.
Doktor Allgäuer war ein stämmiger, untersetzter Mann. Zwischen hochgezogenen Schultern ruckte mit kurzen, schnellen Bewegungen ein großer runder Kopf, in dem hervorstehende Augen steckten. Im weißen Arztkittel sah er einer Schnee-Eule nicht unähnlich. Doktor Allgäuer war Stationsarzt der Inneren Abteilung.
»Ihre Nieren sind nicht in Ordnung«, sagte er. »Mit dem Unfall hat das allerdings nichts zu tun. Das müssen Sie schon länger haben.«
Damit begann meine Patientenkarriere. Beendet waren Bauzeichnerlehre, Ringerkarriere, eine bürgerliche Zukunft. Dass etwas nicht mit mir stimmte, hatte ich geahnt. Nur was es war, konnte ich mir nicht erklären, und ich hatte es auch nicht wissen wollen.

Der sportliche Aufstieg war ebenso bemerkenswert gewesen wie der schulische Niedergang.
Ich wiederholte die Obersekunda und blieb dennoch hängen. Mit Kopf und Herz war ich beim Ringen. Ich verließ das Gymnasium und begann eine Lehre als Bauzeichner. Ostern 1963. Ein halbes Jahr später dann der Crash mit dem Auto.
Drei oder vier Monate zuvor hatte es angefangen, dass ich mich unwohl fühlte. Ich hatte Schlafstörungen und Hitzewallungen, litt unter verminderter Konzentrations- und Regenerationsfähigkeit, unter nervöser Gereiztheit und der Anfälligkeit für Erkältungen. Ich war blass, hatte eingefallene Wangen und dunkle Ringe unter den Augen. Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit verschlechterten sich rapide. Ringersiege und Ausbildungsfortschritte mussten unaufhörlicher Müdigkeit abgetrotzt werden.
»Addisonoider Zustand, Übertrainiertheit«, hatte der Sportarzt gemeint, »Nichts Besorgniserregendes. Das kommt zum Saisonende öfters mal vor. Bald ist Turnierpause, dann ist das alles schnell wieder vergessen.«
Untersuchungen nahm er nicht vor, genauso wenig wie die Hausärztin, die Liebesnöte diagnostizierte.
Ich wurde immer mehr zum Schatten meiner selbst, wusste nicht weiter und war verzweifelt. Bis Doktor Allgäuer mir sagte, dass meine Nieren nicht in Ordnung seien. Ich atmete auf. Endlich hatte ich eine Erklärung: Kranke Nieren.
Mein Vater hatte einmal Malaria gehabt. Nach einer Chinin-Kur war er wieder gesund gewesen. So würde es jetzt auch mit meinen Nieren laufen, dachte ich. Eine Kur, und sie würden wieder gesund sein, und der Albtraum würde ein Ende haben.
Dabei fing der Albtraum erst an!
....

© Uwe Bierbaum-Henke


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