Ähnlichkeiten mit Personen wären rein zufällig. Namen von Einrichtungen und Institutionen wurden im notwendigen Rahmen der Handlung zufällig ausgewählt.
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FABIANS INSELN

... und auch die Trauer eignet sich hervorragend als Insel, auf die man sich verkriechen kann.


Seit Stunden schon sitzt Fabian am Küchenfenster und blickt hinaus auf die abendlichen Straßen der Stadt, hat sich auch diesmal nicht davon abbringen lassen, seine teilnahmslose Haltung aufzugeben, als vor einer halben Stunde Kim auf einen Sprung, wie sie es immer nennt, hereingeschneit kam und seither irgendwo in der Wohnung herumfuhrwerkt. Aus den Augenwinkeln heraus erahnt er mehr ihre Anwesenheit, als dass er seine Tochter bewusst wahrnimmt, ihren vorbeihuschenden Schatten, der immer wieder für einen kurzen Augenblick zwischen den beiden Türpfosten der Küche zu erahnen ist, von links nach rechts, von rechts nach links, mit Schmutzwäsche unters Kinn geklemmt und retour mit frischem Bettzeug.
Die letzten Sonnenstrahlen des warmen Apriltages streicheln wohltuend seinen Körper. Von der Fensterscheibe verstärkt, wärmen sie ihm das ausdruckslose Gesicht, und er spürt unter dem blauen Trainingsanzug den Schweiß auf seiner Haut sich bilden, auch wenn sich seit Marias Tod alles andere an und in ihm wie abgestorben anfühlt. Gleichgültig stellt er fest, dass wohl doch noch genügend Lebensgeist in ihm zu stecken scheint, um den kleinen Schweißtropfen zu bemerken, der sich unter seiner Achselhöhle gelöst hat und nun an seinen abgemagerten Rippen hinunterrinnt.
Für einen kurzen Augenblick vergisst er das Geschehen um sich, verschwimmen die Bilder der Stadt vor seinen Augen, der Straßen und der Menschen dort, der staubgrauen Häuser auf der anderen Straßenseite mit ihren tagblinden Fenstern und der wolkenlose Himmel, der sich über das ganze Stadtpanorama spannt. Mit seiner ganzen Aufmerksamkeit hängt er an diesem einen Tropfen körpereigener Flüssigkeit, konzentriert er sich ganz und gar auf die kleine Schweißperle, deren Schicksal er kennt, vom Stoff seines verwaschenen, ehemals dunkelroten T-Shirts aufgesogen zu werden, die zunächst noch als kleiner dunkler Fleck zu sehen sein wird, dann zunehmend verblasst und schließlich gänzlich verschwindet, wenn auch nur scheinbar. Denn in Fabians Vorstellung würde dieser Tropfen zu einem kristallinen Etwas transformieren, das er sich wie das Kristallgebilde einer Schneeflocke vorstellt, nur salzig eben, und er wünscht sich, wieder einmal und zum abertausendsten Mal, dass Maria nicht einfach so von ihm gegangen wäre, ohne Lebewohl zu sagen.
Das Spiegelbild in der Fensterscheibe glotzt ihn träge an. Versteinert beobachtet es jede seiner Nichtbewegungen und liest in den Gedanken seines Gegenübers den Gedanken, wie dumm es gewesen sei, zu denken, die Welt halte ausgerechnet für ihn etwas Besonderes bereit.
Seine Hände liegen mit leicht gespreizten Fingern flach auf den Oberschenkeln, nervös zuckt der kleine Finger seiner linken Hand. Fabian kommt es wie ein Aufbegehren vor, wie eine Wichtigtuerei des Kleinsten vor den größeren vier der Gemeinschaft, aber nicht wichtig genug, um Fabians ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen oder gar seinen monotonen Blick dafür aufzugeben. Die Augen tränen ihm vom starren Schauen ohne Blinzeln, und wäre dieses Zucken seines kleinen Fingers und das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbs nicht, könnte er für einen unachtsamen Beobachter auch gestorben sein.
Dieser Platz am Fenster ist eine der Antworten auf die Frage nach seinem Standort im Leben geworden. Nicht mittendrin, sondern abseits zwischen bedeutungslosem Schlaf in der Nacht und gleichermaßen bedeutungslosem Wachsein am Tage. Aber was ihm in der Nacht nicht gelingt, gelingt ihm auch am Tage nicht; zu sich zu finden, seiner Seele etwas Erholung zu gönnen.
Zu Bett geht er mehr aus einem Reflex heraus, starrt dann stundenlang zur Decke oder durch das schräge Dachfenster über seiner Schlafstelle, zählt die Sterne und beobachtet die Wanderung des Großen Wagens, und in wolkenverhangenen Nächten wälzt er sich unruhig in sein Kissen hinein, zerwühlt das Laken und seine Seele gleichermaßen und macht sich darüber Gedanken, wie es nur so weit hat kommen können, dass sein Leben im Hin und Her zwischen zwei Fenstern stattfindet.
Er hat gelernt damit umzugehen. Nicht mit seiner Lebenssituation, sondern mit der Sache mit dem Schlafen, indem er von einem Moment auf den anderen für Minuten in ein tiefes Nichts fällt, gleichgültig, wo er sich gerade befindet.

Der Abfall unter der Spüle riecht streng. Wohlriechender Kaffeesatz kann rasch ins Gegenteil verkehren, vor allem, wenn er auf Bananenschalen zu liegen kommt, andererseits gewöhnt man sich irgendwie auch daran, nimmt den säuerlichen Vergärungsgeruch nicht mehr wahr, so wie vieles andere ebenfalls nicht, die ehemals weißen Tapeten zum Beispiel, altersgrau und fettspeckig, wie sie schon waren, bevor er hier vor einem Jahr eingezogen ist.
Zum Abwaschen ist er die letzten drei Tage nicht gekommen, vielleicht sind es inzwischen auch schon vier, wenn nicht sogar fünf Tage; das Nichtstun hatte ihn davon abgehalten.
Und während die riesige Küchenuhr über der Spüle, die er für einen Euro auf dem Flohmarkt erbeutet hat, mit dem lauten Ticken ihres Sekundenzeigers in der Zeit voranschreitet, philosophiert Fabian, dass sein Leben schon einmal ein besseres gewesen ist, auch wenn er es damals nicht so empfand und in den Turbulenzen der Lebensereignisse die schönen und glückseligen Momente zu schätzen vergaß, die einem im Leben vergönnt sind. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, sich nie mit dem zufriedenzugeben, was ist, und sein stetes Streben nach dem Höher, Schneller und Weiter als gottgegeben zu nehmen, selbst wenn das Gegebene nach keiner Steigerung verlangt. Da nimmt sich Fabian nicht aus, auch er ist keinen Deut besser als die anderen, nur hat er den nutzlosen Vorsprung, aus schmerzhafter Erfahrung zu wissen, dass sich von einem Moment auf den anderen alles verändern kann, dass der Lichtschalter, wenn man ihn umlegt, zwar in Bruchteilen einer Sekunde für Helligkeit sorgt, aber die Dunkelheit mit gleichem Aufwand an Kraft und Zeit wieder zurückkehren und einen im Finstern orientierungslos zurücklassen kann.
Leiden entsteht durch Begierde, die Begierde zu haben und die Begierde zu sein , steht auf dem Blatt vom letzten Montag seines Abreißkalenders mit Sinn- und Weisheitssprüchen, welchen er als guter Kunde, der er zweifellos ist, zum neuen Jahr von der Bäckereifachverkäuferin von Gegenüber geschenkt bekommen hat. Seither sammeln sich die abgerissenen Tage, die ihn berühren und die zu ihm sprechen, an der Pinnwand rechts neben dem Küchenfenster, die - unter all den Kalenderblättern, unter den unzähligen Notizzetteln und nicht eingelösten Rezepten, unter den Visitenkarten und Müllbanderolen, unter dem Foto von Kim aus Kindertagen, den bezahlten Rechnungen und denen, die noch zu bezahlen sind, den Mahnungen und den anderen, ehemals relevanten Papierschnipseln -, inzwischen mit der Küchenwand verschmolzen und kaum noch als eine Pinnwand zu erkennen ist.

Zwar ist dieser Sinnspruch Buddhas nur einer unter den vielen anderen, die es an Fabians Pinnwand geschafft haben, darunter auch weniger tiefgründige wie der von Bernhard Grzimek: Der Einzige, der einen Ozelotpelz wirklich braucht, ist der Ozelot , so ist es aber gerade diese Weisheit über die Begierde, die besonders laut, und daher schmerzhaft, zu ihm spricht, da sie zur eigenen Erfahrung geworden ist, ist ihm doch das genommen worden, was er am meisten begehrt hat - seine geliebte Maria.
Es ist schon dramatisch genug, wenn der besagte Schalter eigenmächtig umgelegt wird, wenn man für einen kurzen Augenblick Gott spielt über sein eigenes Schicksal, den Weg vorgibt für sich selbst, egal, in welche Richtung er auch führen mag, egal, ob der Weg hernach mit Selbstvorwürfen und Eigentadel gepflastert sein wird, man sich die Haare raufen und sich am liebsten selbst ins Gesicht schlagen möchte.
Aber wie unerträglich ist es, machtlos zu sein, wenn eine fremde Person Gott spielt, ein Schicksal in die Hand nimmt und entscheidet, ob man auf die andere Straßenseite gelangen kann oder mitten auf dem Fußgängerüberweg überfahren wird.
Der betrunkene Autofahrer hatte sich für Letzteres entschieden, und es war Maria nicht vergönnt, die andere Straßenseite zu erreichen. Nur, dass sie keine Schmerzen erdulden musste und auf der Stelle tot war, kann Fabian als Hinterbliebenem in manchen selbstquälerischen Augenblicken ein wenig Trost spenden.
Von einer Sekunde auf die andere kann alles anders sein! Deshalb ist sein Platz jetzt hier am Fenster, gönnt er sich einen letzten Rest an Sonnenwärme und abendlichem Licht, um seine innere Dunkelheit zu vertreiben, ohne ein schlechtes Gewissen dabei haben zu müssen, hat er doch allem anderen schon entsagt.
Von seinem erhabenen Sitzplatz im vierten Stock aus betrachtet er die äußere Welt, die im monotonen Gleichklang der Zeit an ihm vorübergleitet, Tag für Tag, von Kalenderblatt zu Kalenderblatt, und allein die Zahlen und Monatsnamen zeigen ihm, dass die Welt sich weiterdreht.
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© Uwe Bierbaum-Henke


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